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Das

Fernsehinterview

Von EC ZAnder

 

 

 

Ich trat vor die Haustür und nahm einen tiefen Atemzug. Das Ausatmen bemerkte ich schon nicht mehr. Meine Aufmerksamkeit richtete sich auf ein paar Stare, die ersten in diesem Jahr, die ratlos auf der kleinen Wiese vor dem Haus herumstolzierten, wie Bankleute, denen gerade die Aktienraten weggebrochen waren. Sie taten wichtig und hatten keine Ahnung, was vor sich geht.

Dass das Fernsehstudio in Fußweite zu meiner Wohngegend lag, hatte ich noch nie registriert. Die Einladung zu einem Interview war vor ein paar Wochen altmodisch mit der Post eingetroffen, hatte seine Runde in unserem Institut gemacht und war dann bei mir hängengeblieben. Niemand hatte Lust darauf, sei es aus Dünkel, sei es aus der Befürchtung heraus, sich zu blamieren. Da ich in der Nähe des Studios wohnte, fiel die Wahl auf mich. Also machte ich mich beklommenen Herzens auf den Weg und ahnte nicht, dass ich schon in wenigen Stunden ein anderer Mensch sein würde.

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Ich spazierte den kurzen Weg, ohne mir irgendwelche großen Gedanken zu machen. Ich wusste nicht, was auf mich zukommen würde. Also führte es zu nichts, mir den Kopf zu zerbrechen. Ich passierte den Pförtner und, weil ich angemeldet war, ging ich seiner Beschreibung folgend selbstständig zum Studiobereich. Das schöne Wetter ließ ich hinter mir. In dem Gebäude war es auffällig düster. Noch immer war ich nicht neugierig, eher arglos. Es war eine Aufgabe, die mir übertragen wurde. Nun musste sie ohne viel Aufheben bewältigt werden.

Aber nachdem ich einige Meter in das Dunkel des Studios hineingegangen war, fiel die Tür hinter mir ins Schloss und in mein Bewusstsein schob sich das Gefühl, dass ich in Gefahr war. So schnell würde ich hier nicht mehr herauskommen. Ein leichter Schweißfilm bildete sich auf meiner Oberlippe. Erst in diesem Moment wurde mir klar, dass ich kurz davor war, von der Öffentlichkeit wahrgenommen zu werden, im Mittelpunkt zu stehen und Aufmerksamkeit auf mich zu ziehen. Für manche sicher eine Ehrung und sogar eine Chance. Es wird Kommentare geben, Kritik auch, vielleicht Anerkennung. Für mich stand das nicht im Vordergrund. Und die Tür hinter mir war erstmal zu.

Das Studio war bereits ausgeleuchtet. Sitzmöbel standen scheinbar achtlos verteilt herum. Auf einem würde ich später Platz nehmen. Die Hinter- und Nebenräume machten sich wichtig mit geschäftigem Lärm. Diese mir ungewohnte Umgebung und das, was mir bevorstand, verwirrten mich, und so konzentrierte ich mich auf den Moment, in dem ich dieses Gebäude verlassen und endlich wieder würde durchatmen können.

Ich dachte und atmete nur flach, wollte keinesfalls auffallen, was für diese Aufgabe vermutlich die vollkommen falsche Haltung war, wenn ich als Gast einer Sendung die Hauptrolle spielen sollte.

In der Regel mied ich andere Menschen. Ich interessierte mich zwar für sie, schließlich waren sie Gegenstand meiner Arbeit, aber ihre Anwesenheit war mir unangenehm, oder, um ehrlich zu sein, sie machten mir Angst. Da gab es keine Ausnahme. Menschen machten mir Angst und ich ging ihnen aus dem Weg, wie und wo ich nur konnte. Ich kannte sogar den Grund. Es war ein Satz, nur ein einziger Satz, der vor sehr langer Zeit wie ein Hieb durch mich hindurch gefahren war. Sie kennen das, wenn man sich schneidet. Bevor man weiß, was passiert ist, lange bevor der Schmerz eintritt, ist da nur ein leichtes Ziehen im Gewebe, eine Irritation, vorbewusst.

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Obwohl man nicht weiß, was es ist, weiß man, dass da etwas ist, was da nicht sein sollte, dass es etwas verändert, dass es belasten wird.

Die Forschung in unserem Institut befasste sich mit Alltagsphänomenen, die mehrere Disziplinen betrafen und von denen keine richtig zu fassen war. Aber unsere Ergebnisse fanden Beachtung und wurden, ja tatsächlich, genutzt. In Krankenhäusern, Verkehrsministerien, weltweit sogar. Das Militär hat angefragt. Wir haben abgelehnt. Das Militär hat viel Geld geboten. Wir blieben standhaft. Es hat sehr viel Geld geboten. Wir hatten eine lange Diskussion. Wir hatten begonnen, uns nicht mehr zu mögen, im Institut. Wir blieben standhaft. Aber einige aus dem Team waren kurz davor umzukippen und eine Ausnahme machen zu wollen. Egal wie groß man sich Unabhängigkeit auf die Fahne schreibt, die Bedrohung, gekauft zu werden, ist groß. Das ist nicht nur Zeitungsgewäsch.

"Warum, meinen Sie, meditieren Menschen?"

Die erste Frage der Moderatorin sprach das Thema an, mit dem ich mich seit einiger Zeit unter soziologischen und anthropologischen Gesichtspunkten beschäftigte.

"Dafür gibt es sehr viele Gründe. Einer ist Angst, ein anderer Neugier. Manchmal rät sogar der Arzt, es damit zu versuchen."

"Ist es wirklich der Gesundheit förderlich, wie immer behauptet wird?"

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Das Institut, an dem ich angestellt war, lag im Vorort einer großen Stadt. Ich hatte dort meine Ruhe. Ich genoss Respekt. Ich belieferte andere Forscher, Journalisten und Autoren mit unseren Untersuchungsergebnissen. Ich verdiente damit mein Geld. Die Idee, einen langen Artikel in einer führenden Zeitschrift zu veröffentlichen, war nicht von mir. Das entpuppte sich als Fehler und dann mit all seinen Folgen als Ärgernis. Nun kannten mich andere Menschen, unbekannte Menschen, die sich schlimmstenfalls für mich interessieren würden. Das hatte ich vorher nicht bedacht, und niemand hat mich darauf hingewiesen, weil sich niemand vorstellen konnte, wie abgeneigt ich gegenüber anderen Menschen war. Ich war ein Einzelgänger bester Schule und fühlte mich sehr wohl damit.

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"Es ist der Gesundheit sicher förderlich, je nachdem, wie Sie Gesundheit definieren. Aber meines Erachtens ist das nicht der Punkt."

Dass ich meine Antwort hier beendete, verwirrte die Gastgeberin. Die Sendung, zu der ich eingeladen war, präsentierte Wissenschaft in populärem Gewand, aber ohne sie zu verraten. Meine Scham, im Fernsehen aufzutreten, war also gering. Es war förderlich für unser Institut, und diesem fühlte ich mich verpflichtet.

"Was ist der Punkt?"

Mir war warm. Ich wollte nicht in diesem Raum sein. Ein leises Kribbeln an meiner Schläfe signalisierte mir einen Schweißtropfen. Zumindest dachte ich das. In der Maske beteuerte man fürsorglich, dass mir alles passieren könnte außer einem Schweißausbruch. Dafür hätten sie gesorgt. Für mich sind Schweißausbrüche das, was für einen Torwart der Sprung in die falsche Ecke beim Elfmeter ist. Schon in der ersten Sekunde, schon beim Absprung ist ihm klar, was passiert und was passieren wird, noch im Flug weiß er, dass es die falsche Richtung war, dass er die Kontrolle verloren hat und dass es Folgen haben wird, für alle sichtbar. Die Leute sehen zu, mit leichtem Entsetzen und mit Fassungslosigkeit. Man steht mit seinem Können und mit seinem Versagen im Fokus der Aufmerksamkeit. Man möchte etwas tun, wofür einen alle bewundern und lieben. Genau darin liegt das Hauptversagen - nicht zu gefallen. Selbst wenn ich leicht schwitzen würde, entscheidet sich der Regisseur für eine lange Totale auf die Interviewerin, damit man meine Stirn abtupfen zu kann. Das beruhigte mich leider gar nicht.

Ganz im Gegenteil, ich wurde nervös und auch etwas gereizt. Wie, bitte, soll ich mich denn konzentrieren? In solch einem Durcheinander. Bei so vielen Menschen um mich herum, die mich alle anschauen. Herrgott! Ich bin hier der Mittelpunkt – etwas, was alle anderen Menschen wünschen und ersehnen, wenigstens mal für 15 Minuten. Was für mich aber das Grauen bedeutet. Das schiere Grauen. Der Mittelpunkt der Aufmerksamkeit ist ein Ort, den ich nie betrete. Und jetzt sitze ich mittendrin. Wie bescheuert bin ich eigentlich? Warum habe ich Idiot mir das nicht vorher überlegt. Bin ich ein Wissenschaftler und damit zu rationalem Denken fähig? Du schaffst das, sagt der kluge Mann in mir drin. So, so.

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Der Schweißtropfen ist keine Einbildung. Er ist da und läuft meine Schläfe herunter. Unaufhaltbar wie ein Blatt, von dem man im Moment, als es sich vom Ast löst, weiß, dass man nichts mehr tun kann, es fällt. Ich sehe, dass die Moderatorin darauf schaut und ihn, den Tropfen, mit den Augen verfolgt.

"Der Punkt ist, dass Menschen auch meditieren, wenn sie krank sind oder schwer lädiert."

"Schwer lädiert?"

"Unfälle, Behinderungen. Aller Art. Menschen, die dem Tod geweiht sind, wo Gesundheit als solche keine Rolle spielt. Jeder kann das machen. Zu jeder Zeit. Meditation hat nichts mit Fitness zu tun. Man kann es machen, wenn man auf den Bus wartet. All das, was gerade ein Trend ist, in den schicken Räumen mit abgezogenen Holzdielen, Plastikmatten und tiefen Blicken, das hat nichts mit Meditation zu tun. Das ist eine Mode. Das ist bald wieder vorbei."

Ich bemerkte, dass ich nicht gradlinig sprach, aber die Schlussbemerkung saß.

"Sie scherzen."

Der Schweißtropfen hatte sich in meinen Koteletten verirrt und blieb freundlicherweise hängen. Die Maskenbildnerin war in der Nähe. Die Leute, all diese Leute in diesem Raum, in diesem Studio, das merkte ich in diesem Moment, all diese Leute interessierten sich überhaupt nicht für mich als Person. Sie gingen ihren Beschäftigungen nach. Kamerakabel, Licht, weiß der Himmel, was da alles gemacht werden muss. Männer starren in Bildschirme - das beschrieb das Panorama, das sich mir bot, wenn ich mich umschaute, was natürlich ein Fehler war. Denn hier, so lautet der Inszenierungsplan in diesem unwirklichen Raum, handelte es sich um ein persönliches, fast schon intimes Gespräch, also eigentlich ging es um die Moderatorin und um mich. Ich sollte also nicht so im Raum herumschauen.

Ich sollte mit all meiner Aufmerksamkeit im Zentrum bleiben, das wurde mir nun klar. Um uns beide herum, in einer kleinen Entfernung, gab es einen Ring der Geschäftigkeit, der Ignoranz, alle arbeiteten für die Sendung, also für uns, aber niemand nahm uns wirklich wahr, niemand bezog sich direkt auf uns. Wir beide waren gewissermaßen unter uns, umgeben von einem Ring aus respektvoller Ignoranz. Wie ein Schutzwall. Das beruhigte mich. Schnell war ich wieder gelassen, zurückgekehrt in mein Element. Was dazu beitrug, war, dass ich etwas wusste, was sie nicht bemerkte, was sie sicher verdrängt hatte, denn sie musste diese Sendung hier, so sagt man, „abliefern“, musste bei sich und konzentriert sein, was sie ihre gesamte Aufmerksamkeit kostete. Was ich also wusste, war, dass wir uns schon einmal begegnet waren. Vor langer, vor sehr langer Zeit.

Ich, noch ein Junge, klein, blass, unauffällig, stehe im Wohnzimmer, in der guten Stube, und rühre mich nicht. Alles ist wie festgeschraubt. Die Füße an den dunklen Holzdielen. Die Hände an der Hosennaht. Die Gedanken waren ebenso festgeschraubt an dem Satz, den meine Mutter gerade gesagt hatte, fast nachlässig, die Augen auf ihre Näharbeit gerichtet. Sie saß auf dem Sofa, das mit fast schwarzem, grobem Stoff bezogen war. Darauf ein Muster, das aussah wie achtlos hingeworfene Wollfäden, in einem warmen Gelb. Ein Sofa, wie es manche heute gerne hätten. Altmodisch gewordene Moderne. Damals nur altmodisch.

"Liebst du mich auch?"

 

Sie sagte das nicht zum ersten Mal. Es war keine Frage. Es war eine Aussage, die in eine Frage getaucht wurde. Nicht, um mir die Möglichkeit einer Antwort, also einer Entscheidung zu geben, sondern um mich zu einem Bekenntnis aufzufordern, und damit eigentlich zu einem Akt der Beruhigung mütterlicher Sorge, ob sie verstanden und geachtet wird.

"Liebst du mich auch?"

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Das war die Rückversicherung, dass der Sohn ausgleicht, was das Leben für sie nicht bereithielt. So trug diese als Frage gekleidete Zuschreibung auch eine Hoffnung in sich. Mir war das unheimlich. Ich wusste keine Antwort und verstand den Grund dieser Frage nicht. Mir ließ es die Nervenbahnen einfrieren, wie ich da verkrampft vor der Mutter stand. Liebe, nur ein Wort. Für mich ein Hieb, ein Schnitt, bei dem kein Blut floss. Dieses Wort wurde zum Dämon, zum Tabu, unaussprechlich und unaussprechbar für mich. Das Wort Liebe habe ich dann, in meinem Leben, nie verwendet.

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"Ich scherze keinesfalls."

Eine Kamera fuhr um mich herum. Langsam, konzentriert, scheinbar sich selbst genügend und selbstgewiss.

"All dieses Gewese um Meditation wird wieder aufhören. Es handelt sich dabei um einen kleinen Trend, der schnell vorüber geht. Die Kleidung, die man angeblich dafür braucht, das Geschäft, das sich damit machen lässt. Es gibt spezielle Kerzen, es gibt Rituale, an die man sich unbedingt halten muss, es gibt gigabyte-starke Anleitungen, Blogs, Bücher, Monatszeitschriften. Selbst die Art, wie man sitzt, wird vorgegeben."

"Einwände gegen den Lotussitz?"

 

"Absolut. Wer kann denn so sitzen, wenn er kein Masochist ist?

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In Asien, wo die meisten Meditationstechniken entwickelt worden sind, war und ist es normal, so zu sitzen. Die Leute lernen das von Kindheit an. Stühle gibt es dort kaum. In unserer Mediationsvergangenheit hat man gekniet, auf harten Bänken in kalten Kirchen. Aber schlagen Sie das mal jemandem vor, der eine Wellness-Meditation lernen will. Der erwartet doch Wärme, Weichheit sowie exotischen Duft, und keine schmerzenden Kniegelenke."

"Klingt nicht zuversichtlich, was Sie da sagen."

Sie blickte mir direkt in die Augen. Für einen Moment dachte ich, dass sie mich nun wieder erkannt hätte, dass sie leicht erschrak.

 

"Nein, ich bin sogar froh, dass das alles passiert. Was uns vor ein paar Jahren noch völlig fremd war, hat nun quasi in unserem Alltag Platz genommen."

"Im Lotussitz gewissermaßen."

Sie wollte die Situation auflockern. Hatte sie meine Anspannung anfangs oder ihren eigenen kleinen Schreck soeben bemerkt? Ich redete einfach mal weiter.

"Noch vor wenigen Jahren war Meditation verpönt. Etwas für Spinner, Esoteriker. Es galt als beängstigend oder politisch fragwürdig. Mittlerweile hat nahezu jeder das Gefühl, er müsse im Schneidersitz hocken und sonderbare Mantras murmeln. Sonst sei seine Gesundheit innerhalb von Monaten ruiniert. Danach steckt er sich eine Zigarette an und setzt sich vor den Fernseher. Er hat sich selbst gewissermaßen die Absolution erteilt. Aber das ist gut, gesamtgesellschaftlich gesehen. Nun müssen wir die Gelegenheit nutzen, diese Technik in den Alltag zu überführen."

"Wer ist mit dem Wörtchen 'wir' gemeint?"

Jetzt wirkte sie tatsächlich interessiert. Sie hatte gedacht, dass dieses Interview eine einfache Sache wird, und sich schlecht vorbereitet. Pro Tag wurden mehrere Sendungen dieser Art produziert. So rentierten sich die Mietkosten für Studio und Team. Nach mir war ein hochrangiger Politiker dran. Er nahm beim Schminken den gesamten Raum und auch, natürlich, das gesamte Zeitbudget der Maskenbildnerin ein. Jetzt sah ich ihn im Hintergrund stehen, wie er sich in den Raum hineinblähte.

"Wir? Das sind wir alle. Wir alle profitieren davon. Wir alle. Das ist keine Frage."

"Das heißt, wie soll ich das nennen, Sie glauben an Erleuchtung?"

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Wir hatten die Zielgrade erreicht, das eigentliche Thema dieses Interviews, wie es geplant und vorbesprochen war, in einem fünfzehnminütigen Telefongespräch, bei dem ich hätte Bescheid geben können, dass wir uns schon begegnet waren, vor vielen Jahren, an einem anderen Ort. Zu einer Zeit, in der uns alles gewiss erschien, in der wir einander zugeneigt waren, vergessend, was um uns war, wie wir den anderen nicht aus den Augen ließen, ihm tief in die Seele blicken konnten, ohne dabei zu erschrecken. Alles schien gewiss und war gleichermaßen ungewiss. Wir waren beieinander, fremd, neugierig, damit nah. Wir schauten, sprachen, schwiegen und hörten. Alles war da, alles geschah ruhig und vollkommen. Solche Begegnungen gibt es.

"Ja, sicher. Das ist keine Glaubensfrage. Eher eine Hoffnung. Wenn mehr Menschen öfter mal eine Erleuchtung hätten, wäre unsere Welt ein bisschen besser."

"Sie tun so, als wäre das jedem zugänglich. Ist das nicht nur Heiligen nach jahrelanger Übung möglich?"

"Nein, das kann jedem gelingen. Sie hatten sicherlich auch die eine oder andere Erleuchtung. Ich gehe zumindest davon aus."

Ich lächelte. Sie schaute betont geschmeichelt, als hätte ich ein Kompliment gemacht. Ich sah, dass eine Kamera auf sie gerichtet war. Wie schaut man erleuchtet? Sie probierte verschiedene Mienen aus und fragte schnell weiter.

"Für meine Begriffe handelt es sich bei dem, was wir über Erleuchtung wissen, um einen seltenen, schwer erreichbaren Zustand, von dem Leute reden oder geschrieben haben, die sehr weit weg von unserer Welt sind."

Sie las das irgendwo ab. Ihr Blick war konzentriert auf einen Bildschirm gerichtet. Diese Bemerkung war offenbar vorbereitet, von ihr oder von ihrem Redaktionsteam. Währenddessen beobachtete die Kamera meinen vergnügten Gesichtsausdruck.

"Erleuchtung ist kein guter Ausdruck. Man bekommt den Eindruck, dass es sich um etwas Fertiges handelt, wie eine Plattform, auf die man irgendwie gelangt und auf der man dann für immer bleibt."

"Wie ein neues Level in einem Spiel."

"Wie unsere Vorstellung vom Erwachsensein. Dass man daran permanent arbeiten muss, dass es eine Art Prozess ist, das wissen die wenigsten. Erleuchtung widerfährt einem immer wieder. Dann geht einem quasi ein Licht auf. "

"Wenn man ein heller Kopf ist..."

Das hatte ich anscheinend klar machen können, aber bleiben wir doch noch bei diesem Sprachspiel.

"... oder eine Leuchte."

"Jeder Geistesblitz ist also eine kleine Erleuchtung?"

"Sie bringt Licht ins Dunkel. Natürlich, unsere Alltagssprache weiß das schon lange. Durchblick, klarer Gedanke.“

Sie spielte mit mir. Und sie wusste viel besser, wovon die Rede war, als ich vermutete.

Die Kameras machten ihre Fahrten. Die Assistenten und Mitarbeiter im Studio verrichteten ihre Arbeit. Alles lief perfekt. Ein eingespieltes Team. Der Sendetermin stand fest. Noch ein paar Minuten Aufnahme. Dann der Schnitt. Post-production. Abnahme der Redaktion. Kleine Korrekturen. Klare Bewegungsabläufe. Reine Routine. Fast Spaß bei der Sache. Ein Lächeln zum Kollegen hinüber. Gleich war Platz für den nächsten Gast, den dampfenden Blähpolitiker.

Dennoch, mir wurde unbehaglich. Mir wurde warm. Ich schaute zur Seite. Schweiß wieder auf der Schläfe. Mein Körper hatte vorher begriffen, dass ich noch aus einem anderen Grund hier saß.

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Es war lange her, dass wir uns begegnet waren. Ich hatte mein Studium beendet und hielt mich mit Gelegenheitsjobs über Wasser. Mein Leben gestaltete sich eintönig, einsam und ärgerlicherweise völlig perspektivlos. Eines Tages, nach einem heftigen Regenguss, sah ich jemanden neben dem Eingang des Bürogebäudes, in dem ich für ein paar Wochen eine Stelle gefunden hatte. Die Luft war klar. Es hatte abgekühlt. Die Welt machte einen erfrischten Eindruck. Allerdings, dieser Mensch wirkte wie hingeworfen, wie abgestürzt. Wie ein abgestürzter großer Vogel. Der Körper, die Glieder, alles ungeordnet. Eine junge Frau. Offenbar beim Joggen vom Regen überrascht worden. Die Schuhe verschmutzt. Lehmspritzer die Waden hinauf. Schwarze Sportkleidung. Nass. Die Haare klebten. Erschrocken bin ich über ihren Blick. Ein Blick, leer wie ein exhumiertes Grab.

Ich sprach sie an. Ob sie Hilfe brauche, was geschehen sei, ein Überfall? Sie stand auf, streckte sich und ging vor mir durch den Eingang des Bürogebäudes, dessen Tür ich immer noch in der Hand hielt. Ich folgte treu wie ein kleiner Junge. Da steckte anscheinend noch ein Hauch Leben in ihr.

Es war noch früh. Wir waren unter uns im Büro. Auf meine Fragen reagierte sie mit Nicken oder Kopfschütteln. Im Grunde schwiegen wir die meiste Zeit. Wir schwiegen uns nicht an, wir schwiegen umeinander herum. Ich begann zu arbeiten, ohne Konzentration und ohne rechten Sinn, eigentlich nur, um der Zeit beim Verstreichen zu helfen. Sie saß auf dem Stuhl gegenüber. Ich hatte ihr ein Handtuch gegeben und das Bad für Mitarbeiter gezeigt. Die Dusche hat sie nicht benutzt. Ihre schmutzige, nasse und sicher auch kalte Sportkleidung hat sie anbehalten. Ich war ratlos, und sie war einfach nur da.

Später rief ich ein Taxi. Als es kam, gingen wir gemeinsam hinunter, ich vor ihr her, gleich zum Taxifahrer hin, versuchte ihm zu erklären, worum es sich handelt, wenn mir auch ganz und gar nicht klar war, worum es hier wirklich ging. Er sah mich an, dann hinter mich, und ich drehte mich um. Sie hatte sich wieder genau an den Platz gesetzt, an dem ich sie gefunden hatte, in nahezu der gleichen Haltung. Der Fahrer fuhr ohne ein weiteres Wort davon. Auf sein Geld verzichtete er, vermutlich war ihm das Ganze nicht geheuer. Ich verstand ihn gut und kehrte an meinen Schreibtisch zurück. Sie folgte mir mit einem Meter Abstand.

Mittags ging ich in die Kantine. Sie blieb auf ihrem Platz. Da ich ihre Vorlieben nicht kannte, holte ich verschiedene Speisen und brachte sie ihr. Wenig wählerisch nahm sie von jedem Teller. Kein Zeichen des Dankes, aber der kleine Hauch war wieder spürbar, als würde eine entfernte Tür in einer großen stickigen Halle geöffnet.

Es fiel mir schwer, zu arbeiten. Kollegen kamen vorbei und versuchten, keine Miene zu verziehen, was ihnen nur schwer gelang. Sie hielten eher mich für übergeschnappt als sie. Ihr begegneten sie mit Respekt, nickten ihr zu, grüßten. Ich wusste nicht, wie es weitergehen sollte. Menschen, die nicht sprechen, sind schwer einzuschätzen. Nicht sie, man selbst wird zum Trottel. Meine Jacke, die ich ihr - dass ich erst jetzt auf die Idee kam - reichte, legte sie sich um die Schultern. Bald schlief sie ein. Ich hatte nicht den Eindruck, dass sie unter Stress stand oder gar unter Schock. Sie war schlicht nur da. Und meine Gedanken schwirrten um sie herum.

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Am späten Nachmittag wollte ich das Büro verlassen, Einkäufe erledigen und anschießend einen gemütlichen Abend mit einer Fußballübertragung verbringen. Als ich das Gebäude verließ, folgte sie mir. Sie wurde zu meinem Schatten. Die Leute auf der Straße guckten komisch.

In meiner Wohnung machte sie sich sofort unsichtbar. Es gibt Menschen, denen das leicht fällt. Sie konnte beides, einen Raum dominieren oder sogar ein ganzes Bürogebäude, ohne ein einziges Wort zu sprechen, und sie konnte so unbedeutend werden, wie jemand, der achtmal nach der Bedienung winken muss, bevor etwas geschieht. Ich gab ihr einen Einblick in meinen Kleiderschrank und zeigte ihr das Bad. Dann verschwand ich in die Küche und bereitete Spiegeleier mit Bratkartoffeln zu.

Währenddessen versuchte ich zu verstehen, was mir widerfahren war. Denn was ihr widerfahren war, war mir vollkommen unklar, und ich verlor zunehmend die Hoffnung, das herauszufinden. Überfallen worden war sie dem Anschein nach nicht. Sie machte einen gesunden, wie soll man sagen, intakten Eindruck. Sie war lediglich nicht so ganz in der Welt, wie wir sie kennen. Das konnte aber auch an der Welt liegen, weil sie so ist, wie wir sie kennen. In diese Welt war sie geplumpst, von irgendwoher, und so schaute sie drein. Für mich musste ich konstatieren, dass ich noch nie so lange Zeit in der Gegenwart eines anderen Menschen geschwiegen hatte. Dieses Schweigen nahm eine eigene Gestalt an. Es veränderte sich. Es bekam Farben und einen schlichten, summenden Klang. Es fühlte sich warm und heimelig an. Es war das Einzige, was uns verband.

Während sie im Bad beschäftigt war, deckte ich den Tisch. Wenn sie joggen gewesen war, musste sie einen Hausschlüssel haben. Wohnte sie irgendwo? Gab es Menschen, die sie vermissten? Sollte ich zur Polizei gehen? Es melden?

 

„Hier ist eine Frau in Jogging-Klamotten, die nicht spricht.“

 

Ich tat es nicht. Nicht sie, ich war in eine neue Welt eingetreten. Wenn man sich wie ich mit Bewusstseinszuständen befasst, schlaue Bücher liest und Theorien aufstellt, dann kann die Begegnung mit der Realität beängstigend und doch aufregend sein. Für mich war es viel mehr. Ich hatte in meinem Studium Indien gesucht und Amerika hatte sich vor die Tür meines Arbeitsplatzes gesetzt, um es mit Columbus zu sagen. In einer Jeans und einem Pullover von mir setzte sich Amerika an den Küchentisch und bediente sich an den gebratenen Eiern. Die Kartoffeln ignorierte sie. Mich ebenfalls. Ebenso die Fragen, woher sie kam, ob es einen Hausschüssel gab, ein Handy oder irgendetwas anderes Brauchbares. Im Grunde hatte ich sie schon adoptiert, als sie am Spätnachmittag im Gemüseladen so dicht hinter mir stand, dass ich ihren Atem spürte.

Sie machte keinen unglücklichen Eindruck, auch keinen unzufriedenen. Manchmal ging ein Strahlen von ihr aus, dann stand eine dunkle Wolke um sie herum. Schwarz, weiß, rund, kantig. Leer. Nichts sagend, vollmundig. Schäumend, in sich zusammengefallen. Sie konnte den Raum der kleinen Wohnung aufblähen, in eine große Welt verwandeln, sie konnte leuchten und sie konnte dafür sorgen, dass ich mir Gedanken machte, die nichts mit dem zu tun hatten, was ich vorher als Denken bezeichnet hätte. Sie war anwesend und abwesend zugleich, wie ein gelungenes Gitarrenriff oder wie der Tod.

Manchmal musste ich nachschauen, ob sie noch da war. Immer, wenn ich begann, über sie nachzudenken, spürte ich den Hauch. Verliebt war ich nicht. Sie war ein Medium. Vermutlich gar nicht von dieser Welt.

Der Abschluss des Studiums hatte meine Welt geöffnet. Plötzlich gab es keine Verpflichtungen mehr als Anker. Es gab kein Ziel. Und keine Grenzen. Nur den Zwang, Geld zu verdienen. Das war neu für mich und leicht zu bewerkstelligen. Alles andere war reine Grenzenlosigkeit, die im Begriff war, in Langeweile umzuschlagen. Bevor ich ernsthaft beginnen wollte, eine ordentliche Stelle zu suchen, eine Berufung, hatte ich mir sechs Monate süßes Leben verschrieben. Nur hatte ich überhaupt keine Vorstellung davon, wie man das macht. Ehemaligen Studienkollegen ging ich aus dem Weg, Arbeitskollegen erst recht, neue Freunde suchte ich nicht und Ausgelassenheit war mir fremd. Ich war ein ernsthafter, zielstrebiger Zeitgenosse und hatte keine Ahnung, woraus das Leben im Allgemeinen besteht und was das Wort Alltag bedeutet. Ich lebte dumm herum, konsumierte in Maßen und wurde bald so dumpf, dass ich mich noch nicht mal mehr überflüssig fühlen konnte, wie ein in die Jahre gekommener Serienstar.

Sie hatte kein Handy, sie hatte keinen Namen, sie hatte niemanden, der sie vermisste. Bei der Polizei fertigte man mich schnell ab. Alle wären dort, wo sie hingehörten. Ich solle nehmen, was mir das Schicksal schenkt. Diesen dämlichen Satz hörte ich, als ich gleich mit ihr zusammen dort auftauchte. Das Grinsen des Beamten war nicht minder dämlich. Ich kaufte Zeitungen und Stadtteilblättchen. Niemand wurde vermisst. Der Schlüssel, den sie mir wortlos auf den Tisch legte, gehörte sicher zu ihrer Wohnung, war aber wenig hilfreich. Ich konnte ja nicht herumspazieren und Türschlösser ausprobieren. Allerdings hätte man mich dann bei der Polizei ernster genommen, die grimmige Bewohner hinter den Schlössern gerufen hätten. Ein Anschlag neben dem Eingang des Bürogebäudes brachte auch nichts. Sie fehlte niemandem, sondern war offenkundig einfach von einer Wolke gefallen. In Joggingkleidung. Verschwitzt, durchnässt und verdreckt.

Während sie nichts kommentierte, nichts beurteilte und nichts tat, begann ich sie zu begehren, was nach einer Weile sicherlich meinen Augen abzulesen war. Das Ende kam dann schnell.

Eines frühen Morgens, ich schaute, frisch aufgestanden, aus dem Fenster, stand sie vor mir, sah mich an mit einem Leuchten im Blick und fragte, ob ich mein Leben mit ihr verbringen werde. Sie sprach. Sie konnte sprechen. Ein Kloß arktischer Kälte hielt mich ab, das kleine Wort zu sagen, das richtig gewesen wäre. Mit gefrorenem Hals stand ich da und stand meinem Leben im Weg. Sie hakte nach mit der Frage, ob ich sie lieben würde. Was das mit mir anrichtete, mit meiner Gestik, meiner Mimik, weiß ich nicht mehr. Es reichte allerdings, dass sie sich sammelte, umdrehte und meine Wohnung verließ und damit mein Leben.

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"Ich glaube, das leuchtet mir ein."

Immer noch scherzten wir über das Thema ‚Erleuchtung in der Alltagssprache‘.

Der Schweiß an meinen Schläfen zog Bahnen. Durch die Koteletten, noch. Offenbar war sie Journalistin geworden. Reden lag ihr damals nicht, aber das hatte sich offenkundig verändert. Ob sie mich auch erkannt hatte? Ich fühlte mich wie ein Trottel. Vorhin hatte ich mich überlegen gefühlt. Jetzt wollte ich nur weg. Aus dem Moment, aus dieser Situation, aus dem Studio heraus. Gab es Hilfe? Erlösung? Das Thema unseres Gesprächs wurde existentiell. Jedenfalls für mich. Sie saß mir gegenüber und schaute mich ruhig an. Nahm sie Rache? War das alles inszeniert? Saß ich in einer Falle? Ich wendete den Kopf und suchte mit meinem Blick die Tür, die erst vor kurzer Zeit ins Schloss gefallen war, die mich und meine Selbstachtung einsperrte. Ich fühlte mich wie ein Kristallglas, das unterwegs war, am Boden zu zerschellen. Beschmutzt mit dem klebrigen Schleim größten Selbstmitleids.

Sie reichte mir ein Glas Wasser und beschäftigte meine Eitelkeit mit der Frage:

"Was muss ich denn tun, damit mir ein Licht aufgeht?"

Ich trank einen Schluck. Die Kamera verfolgte jede meiner Bewegungen. Ich runzelte die Stirn, simulierte tiefes Nachdenken und erlangte die Fassung zurück. Sie lächelte mich gewinnend an und zog die Aufmerksamkeit auf sich. Schwenk der Kamera. Tiefes Ausatmen. Tiefes Einatmen. Ich fuhr mit der Hand über meine Stirn, die Schläfen hinab. Natürlich ging es nicht um meinen Schweiß, sondern darum, ein neues Kapitel in diesem Interview einzuleiten, mit einer Geste, die ankündigt, dass wir nun ein neues Terrain betreten. Das hatte sie gut gemacht. Mir gelang ein Lächeln, schief zwar, aber dankbar.

"Es ist doch so, dass wir alle in unserem Leben herumeiern. Nur selten reißt mal der Himmel in unserem Verstand auf und unser Alltag bekommt etwas Klarheit, einen kleinen Strahl Klarheit, etwas Überblick, Weitblick und etwas Ruhe."

"Meditation kann dabei helfen, richtig?"

"Richtig. Man bemüht sich dabei um Entspannung, um Loslassen, wie sage ich es am besten, man bemüht sich darum, einen Kontrollverlust zuzulassen."

„Das Ziel ist, nicht zu denken. Richtig?“

Jetzt hatte sie mich wieder auf der Bahn. Ich nahm neuen Anlauf, fühlte Kraft und Sicherheit.

 

"Falsch! Erleuchtung hat etwas mit Kontrolle zu tun. Nicht denken, das kann man nicht. Aber entscheiden, was man denkt, das kann man lernen. Mind Control. Mich nicht von meinen Gedanken verrückt machen zu lassen. Das ist Arbeit. Das ist Konzentration. Das ist nicht das Substitut von Haschisch oder Schnaps."

"Sport für das Gehirn. Oder besser, Sport für das Bewusstsein?"

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Der Rhythmus begann wieder zu stimmen. Wir waren wieder die Einzigen im Raum. Die Bewegungen waren synchron und akzentuierten einander.

"Meditation oder Gebete oder Gesänge oder Yoga - das alles hilft. Keine Frage. Verkrampft oder verängstigt kann niemand einen klaren Gedanken fassen, keine Idee bekommen, keine Störgefühle zulassen."

"Störgefühle?"

Sie richtete sich auf, neigte sich zu mir.

"Unser Kopf ist voll damit. Der reine Mülleimer. Schlechte Erfahrungen. Unbeachtete Hoffnungen. Schicksalsschläge. Situationen, in denen man versagt hat. Angst. Unausgelebte Wut. Kaum recyclebar, der Kram. Verstopft alle Kanäle."

Meine Stirn war ein einziges Runzeln. Die Arme flogen in die Luft. Wir boten Schmierentheater für die Fernsehbilder.

"Und für Erleuchtungen aller Art wäre es praktisch, wenn der Müll, der Denkmüll, nicht stört?"

 

Fast grinste ich frech.

"Genau. Es geht darum, zu erkennen, dass da wieder ein Gedanke ist, der stört, der schwierig ist, oder eine Emotion, ein Gefühl, das mich quält und das mich davon abhält, ruhig und besonnen den augenblicklichen Moment zur Kenntnis zu nehmen."

"Und es reicht, dass ich das bemerke? Huch, da ist aber ein doofer Gedanke oder eine Sorge oder eine Wut oder was-weiß-ich. Es reicht, dass ich das feststelle, und dann ist das weg?"

"Eigentlich schon."

"Und uneigentlich?"

"Die meisten Erfahrungen, die wir machen, sind unverdaut. Die liegen wie Klopse in uns herum. Es dauert eine Weile, bis wir das akzeptieren, bis wir das überhaupt wahrnehmen. Das muss man sich dann vielleicht mehrmals ins Bewusstsein holen, und vor allem darf man es keinesfalls beurteilen."

"Klingt aber gar nicht leicht."

"Zugegeben, das ist Arbeit. Und es dauert lange, bis man sich daran gewöhnt hat. In der Regel nimmt ja niemand das ernst, was er denkt."

"Ach."

"Genau, klingt seltsam. Aber all das Gedenke rauscht durch, blockiert die Zugänge, verstellt den Blick und kostet viel Kraft. Aber richtig klar wird es dem Denker nicht, was ihm da im Kopf herumfährt. Ärgerlich, aber wahr und bei fast jedem so. Und die Resultate sind kaum erwähnenswert."

"Ok, was kann man tun?"

"Meditieren ist ein guter Weg. Es ist, so haben wir festgestellt, aber nicht unbedingt nötig, in geschützten Gehegen den Geist zu beobachten. Das Ziel ist, es im Alltag zu tun. Wenn man Möhren schält oder einer langweiligen Sitzung beiwohnt. Oder wie es auf einer Spaßpostkarte so treffend steht: Wenn man schon herumsitzt und nichts tut, kann man auch gleich meditieren. Soll heißen, am besten man macht das immer."

"Wo man geht und steht...?"

"Im Grunde ja. Denn der Witz ist, es geht nicht um das Meditieren. Das ist gut und gesund und sieht nett aus. Es geht darum, seine Gedanken zu kontrollieren, sich nicht von ihnen kontrollieren zu lassen und sich darüber klar zu werden, was man denkt. Es geht darum, nicht über den Dingen, sondern über seinen Gedanken zu stehen."

Das hatten wir schon. Das Gespräch befand sich auf dem Rückweg. Wir sammelten die Erkenntnisse ein, die rechts und links am Wegesrand lagen, wie eine Sommergesellschaft, die auf dem Weg zum Auto noch ein paar reife Beeren aufliest. Für ein Fernsehinterview sollte das reichen, vermutete ich. So lockerte sich langsam meine innere Verkrampfung. Ich begann, mich wohl zu fühlen und wurde verwegen.

"All diese Maßnahmen dienen nur dazu, sich bereit zu machen für die Erkenntnis, für die Erleuchtung. Denn es gibt kaum etwas Schöneres als einen klaren Gedanken. Neurophysiologen haben festgestellt, dass der Hormonschub, wenn man etwas kapiert hat, genauso stark ist wie bei einem Orgasmus. Das macht Mut, nicht wahr?"

Ich lächelte.

"Kann das alles auch spontan geschehen? Dass sich all der, wie haben Sie es genannt, Denkmüll auflöst, dass plötzlich eine große Klarheit im Kopf herrscht?"

Ein Atemzug Stille. Ein Engel ging durch den Raum.

Nun begriff ich. Und sie bemerkte es. Ein Leuchten in ihrem Gesicht.

"Spontanerleuchtung, das kann vorkommen. Das Unangenehme dabei: So etwas kann überall stattfinden, nicht nur im Kloster oder im Ashram. Dort kümmert man sich um einen, wenn es geschieht. Denn das ist dann nicht immer einfach, je nach Intensität. Es kann einen aber auch jederzeit treffen. Wie gesagt, beim Möhren schneiden, beim Duschen..."

"... beim Joggen."

Ich ließ mir nichts anmerken.

"Und dann kann es einen fundamentalen Schock auslösen, weil man nicht weiß, wie einem geschieht. Das ist absolut möglich."

"Meine Damen und Herren..."

Sie wandte ihr Gesicht einer Kamera zu, die, ohne dass ich das bemerkt hatte, an sie herangefahren war.

"... das war unser heutiges Fachinterview zum Thema..."

Ich hörte nicht mehr zu und stand auf. Was sollte ich Trottel jetzt auch noch tun.

Einige Monate, nachdem sie damals meine Wohnung verlassen hatte, verzehrte ich mich mit Schuldgefühlen und Verzweiflung. Die Blätter waren von den Bäumen gefallen und jeden Abend spazierte ich ohne Hoffnung durch meine Wohngegend. Natürlich lag sie nicht wieder irgendwo auf dem Boden. Das bleibt jetzt so, sagte ich mir und betrachtete die dunklen Äste, die wie dünne Finger in die Wolken griffen. Jeden Abend besuchte ich auch den Raben, der mich immer auf demselben Baum erwartete. Er hockte da auf seinem Astfinger, betrübt und selbstzerfressen, wie ein magerer Abteilungsleiter, der tagsüber auf den Seelen seiner Mitmenschen herumhackt, gehässig und ohne Wirkung, seine dürren Beinchen zu einem bösen Knoten verschlagen.

Dem Raben erzählte ich mein Leben, so kurz und schlicht es auch war. Ohne den typischen Stolz, für den diese Tiere bekannt sind, gab er hier und da ein spöttisches Krächzen von sich. Jeden Abend zur gleichen Zeit besuchte ich ihn, bis er davonflog, nachdem er unruhig hin- und hertippelnd zugehört hatte. Danach habe ich ihn nie wieder gesehen. Ein paar Mal ging ich diesen Weg noch. Dann unternahm ich eine Reise, wechselte die Stadt und suchte mir die Arbeit, die ich jetzt noch ausübe. Der Rabe aber hat mich nie wirklich verlassen. In meinen Träumen sitzt er oft auf meiner rechten Schulter. Ich spüre die Krallen auf der Haut und seinen zischenden Atem im Ohr.

9

"Gibt es den Raben noch?"

Wir gingen eine Geschäftsstraße entlang, die bessere Zeiten gesehen hatte, auf das Dunkelgrün einer Parkanlage zu.

"Er ist kleiner geworden und meldet sich selten. Woher weißt du von ihm?"

"All die Dinge, die wir in dem Interview besprochen haben, sind ja gut und schön. Aber hast du dich jemals, um im Jargon zu bleiben, mit Hellsichtigkeit befasst?"

Ich blieb stehen, schaute auf den Boden, dann den Bürgersteig entlang auf den Park, in die Baumspitzen, lauernd.

"Ja, das haben wir. Es gibt überhaupt keine Untersuchungen dazu, jedenfalls keine ernstzunehmenden. Behauptungen gibt es hingegen eine Menge. Joggst du noch?"

"Nach der Explosion in meinem Kopf, direkt beim Laufen, war ich fassungslos, wie du unschwer bemerken konntest, aber nicht unglücklich. Einerseits war ich frei, befreit im Kopf, nichts bedrückte mich, Erinnerungen interessierten mich nicht, die Zukunft endete für mich nach etwa 15 Minuten, alles danach war mir egal. Andrerseits sah ich lauter Dinge, mit denen ich nichts anfangen konnte, die ich nicht einordnen oder jemandem zuordnen konnte. Erst später, veranlasst durch den Schock, in den ich nicht mich, sondern dich versetzt hatte, wurde mir klar, was für einen Schatz ich da entdeckt hatte, was das aber auch für eine Bürde war."

"Warum hast du dann bloß diese Frage gestellt? Ob ich dich liebe. Du hättest wissen müssen, dass …"

 

 

10

Im Park saßen viele Leute, die sich unterhielten, Bier tranken und rauchten. Sie bot mir eine Zigarette an, ich lehnte ab, sie zündete sich eine an und zog genüsslich den Rauch ein.

 

"Ob Rauchen oder falsche Fragen - Erleuchtete sind auch nur Menschen. Sie genießen das Leben und trampeln manchmal in die Seele anderer Leute hinein. Gott kann man nicht werden. Man kann es nur versuchen und sich bemühen, keine Angst zu haben. Und vielleicht steckt sich Gott ab und zu eine Zigarette an oder genehmigt sich ein Bier."

"Warum bist du dann ausgerechnet beim Fernsehen gelandet?"

"Ich begann mich treiben zu lassen, fand allmählich meine Sprache wieder und knüpfte Kontakte. Natürlich brauchte ich Geld. Mein altes Leben war wertlos geworden, ein anderes drängte sich nicht auf, also musste ich mir eins bauen. Wohnung, Arbeit, Tagesabläufe. Wie bei einer Amnesie habe ich die Anwesenheit in unserer Gesellschaft wieder lernen müssen. Berufserleuchtete wollte ich nicht werden. Das war mir sofort klar. Da kam das Angebot von der Fernsehredaktion gerade recht."

Wir setzten uns auf eine Bank, schauten in den Park und beobachteten den Fluss der Zeit.

"Forschst du nur an diesem Thema oder beschäftigst du dich auch anders mit dem alten Kumpel Hirn in deinem Kopf? Also, meditierst du auch?"

"Mir langt die Forschung. Distanz ist mir wichtig. Nur manchmal, wenn ich nicht weiß, was ich denken soll, wenn ich frei bin und wenn dann Langeweile im Kopf herrscht, spielt mir mein Gehirn Melodien vor, aus dem Zusammenhang gerissen, und ich grübele dann, woher sie stammen. Ich habe so ein einfaches Ziel, das zu erreichen mich eine Weile beschäftigen kann."

Sie nickte, drückte die Zigarette aus, beinahe gleichzeitig standen wir auf und verließen den Park. Wir gingen dieselbe Straße zurück zu ihrem Auto, das vor dem Studio geparkt war. Gesprochen haben wir nicht mehr. Eher war es so, dass wir uns verflüchtigten, wie zwei Gase, die für eine lange Zeit vermischt waren und für die nun die Zeit gekommen war, sich endlich zu trennen.

Fotografin Daniela Wagner

www.daniela-wagner-images.de

Autor EC Zander

Korrektorat: Nadia Ratti, Bastian Exner und Anna Staudacher

Fotos der Saddhus  Bibek Raj  Commons Wikimedia

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